Geschichte
Einleitung
Durch die Jahrhunderte bis in die jüngste Neuzeit war die Pferdezucht in Ostfriesland ein bedeutender Produktionszweig in der Landwirtschaft. Die Boden- und Witterungsverhältnisse an der Nordseeküste begünstigten zu allen Zeiten eine umfangreiche Pferdezucht. Es gab in Mitteleuropa nur noch die Regionen Oldenburg, Nord- und Westfriesland, die ein ähnliche Pferdedichte aufwiesen. Der wirtschaftliche Wert der Erzeugung von landwirtschaftlichen und gewerblichen Arbeitspferden war enorm und begünstigte die Tatsache, dass in Ostfriesland die ersten Stut- und Hengstbücher Deutschlands eröffnet wurden und schon früh gezielte Selektionsmaßnahmen die bäuerliche Pferdezucht - neben der Nachfrage des Marktes als Regulativ - beeinflussten.
Die Pferdezucht war ausschließlich privat organisiert. Gestüte und staatliche Hengsthaltung gab es in Ostfriesland nicht. Bereits 1715 wurde in den nördlichen Ämtern Ostfrieslands von den Landesherren, deren Marstallhengste den Bauern schon immer zur Verfügung standen, eine Körordnung für private (bäuerliche) Hengste erlassen, die 1755 auf ganz Ostfriesland ausgedehnt wurde. Trotz dieser Anordnungen, nur ausgewählte Hengste zur Zucht zu benutzen, konnte nicht lange von einer ausgeglichenen Pferdezucht gesprochen werden. Hengste der verschiedensten Herkünfte mit viel spanischem und orientalischem Blut trafen im 18. Jahrhundert auf das derbe gedrungene Wirtschaftspferd der Bauern, die für ihren eigenen Gebrauch eben diesen Typ bevorzugten, während für den Export und für Kutsch- und Reitzwecke die veredelten Nachzuchten gesucht wurden. Erst im 19. Jahrhundert, als Ostfriesland hannoversche Provinz geworden war, wurde die Pferdezucht, auch durch die Landbeschäler aus Celle, einheitlicher. Regierungsabsichten, auch ein Militärpferd mit Hilfe der Landbeschäler zu züchten, wurden nicht umgesetzt. Statt dessen wurde die Leistungsbereitschaft der Arbeitspferde durch privat eingeführte, aus England stammende Wagenpferdschläge (Cleveland-Bay und Yorkshire), erhöht. Auch Hengste aus der Normandie erhielten einen durchschlagenden Einfluss. Die ostfriesischen Bauern erzeugten damit solide und gutmütige schwere Pferde ausschließlich für den Zugdienst.
Durch Aufstellung von Hengsten der genannten, aber meist aus Oldenburg stammenden Blutlinien, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gefestigte, einheitlichere Stutenbasis. Um 1880 wurden alle Einfuhren fremden Zuchtmaterials eingestellt. Im Typ traten zu jener Zeit zwei deutlich verschiedene Typen auf. das knappe, kurzbeinige Arbeitspferd und das leichtere, elegantere Kutschpferd. In diese Zeit fällt der Ursprung der modernen Pferdezucht. Die Spur reicht zurück nach England in das Land der Blutpferde. Alle heutigen mitteleuropäischen Kernzuchtgebiete begannen im vorigen Jahrhundert ihre inländischen Pferde mit ihrem spanischen Einschlag (den heute als barock angesehen Typ) umzuformen. Die verschiedenen lokalen Variationen mussten Karossiers werden. Das gedrungene, kurzbeinige Pferd, seit dem Mittelalter dazu bestimmt, eine Person über wenig oder gar nicht ausgebaute Wege zu transportieren und Feldarbeiten zu erledigen, mußte aus ökonomischen Gründen einem größeren, schnelleren Pferd mit "Blut" platzmachen. Es musste in der Lage sein, Kutschen mit mehreren Personen und Wagen mit industriellen und landwirtschaftlichen Produkten über die "Chausseen" des 19. Jahrhunderts zu ziehen. Pferde, die diese Eigenschaften besaßen, gab es damals in England, das in seiner ökonomischen Entwicklung dem übrigen Europa voraus war. England verfügte aus der Kreuzung von Cleveland-Bay und Vollblut über ein hoch im Blut stehendes schnelles und ausdauerndes Kutschpferd, dem Yorkshire-Coachhorse. Diese Pferde hatten sich schon auf den englischen Postwegen bewährt und die aufkommende Industrialisierung konnte das Transportproblem mit Hilfe dieser Pferde bewältigen. Auch auf dem Kontinent führte der Ausbau von Industrie und Handel zur Nachfrage nach geeigneten Transportpferden. Aber die einheimischen Zuchten konnten allesamt nicht aus eigener Kraft den Bedarf an ausdauernden Kutsch- und Wagenpferden decken. Frankreich, Niederlande und die norddeutschen Zuchtgebiete Ostfriesland, Oldenburg, Hannover und Holstein importierten deshalb englische Hengste, um ihre inländischen Bauernpferde umzuformen. Vor allem die Kreuzung von oldenburgischen und hannoverschen Stuten mit englischen Hengsten hatten den durchschlagenden Erfolg und legten zusammen mit importierten Anglo-Normannen am Ende des 19. Jahrhunderts den Grundstein für die Konsolidierung der Zucht in Ostfriesland und Oldenburg.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert veränderten die technischen und damit die ökonomischen Entwicklungen die einheimischen Pferde unwiderruflich. Der alte Pferdeschlag, angepasst lediglich an die einfache, wenig mechanisierte Landwirtschaft, wurde zurückgedrängt durch die vielseitig einsetzbaren und leistungsstarken Pferde aus der erwähnten Einkreuzung von Pferden aus der Provinz Hannover, England und der Normandie. Die Umzüchtung musste in Anpassung an die schnelle wirtschaftliche Entwicklung rasch erfolgen, so dass die ostfriesischen Züchter mit Gründung des Ostfriesischen Stutbuchs im Jahr 1869 eine Organisation erhielten, die durch konsequente Selektionsmaßnahmen besonders effektiv auf die Erfordernisse des Marktes reagieren konnte. Erst mit Gründung des Stutbuchs kann von einer organisierten Zucht gesprochen werden. Vorher wurden die Stuten und ein Teil der Hengste (sog. "schwarze Hengste") überhaupt nicht registriert. Noch bis in das 20.Jahrhundert gab es verhältnismäßig viele "wilde" Bedeckungen, weil für die Erzeugung von einfachen Wirtschafts- und Handelspferden auf eine stutbuchmäßige Erfassung bewusst verzichtet wurde. Erst in der Neuzeit wird für fast alle Pferde die Abstammung dokumentiert. Ostfrieslands Pferdezüchter schlossen sich seinerzeit aber zum größten Teil in kurzer Zeit ihrer Zuchtorganisation an , da sie die offensichtlichen Vorteile einer planmäßigen Zucht erkannt hatten.